Rede von Helmuth A. Niederle

Anlässlich der Lesung von Juan Gabriel Vásquez am Dienstag, den 26. April 2022 im Weltmuseum Wien, hielt Dr. Helmuth A. Niederle, Präsident des Österreichischen PEN-Clubs, in Anwesenheit des kolumbianischen Botschafters, Miguel Camilo Ruí­z Blanco, folgende Rede:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Der Österreichische PEN-Club wird nächstes Jahr einhundert Jahre alt, doch wir sind in unserem Engagement jung geblieben. Was haben wir in den Jahren gemacht? Es gibt politische Diskurse und es gibt literarische Diskurse.
Immer wieder sagt man, von einer Kultur zu einer anderen Kultur müssen Brücken gebaut werden. Brücken bauen ist eine Sache. Brücken überspannen Täler. Stehen im Licht und sind daher gut sichtbar. Der literarische Diskurs ist meistens eine ganz andere Sache. Das sind Probebohrungen. Das sind enge Schächte, das sind schmale Kanäle, die Freiräume von zwei Millimetern, rechts oder links, oben oder unten freilassen. Wir Autor:innen reiben mal auf der linken Seite, mal auf der rechten Seite, mal oben, mal unten, stets in der Hoffnung, dass es vier Millimeter werden. Und da wir widerborstig sind, sind wir noch nicht zufrieden und schaben und schürfen weiter, um den Tunnel und die Kanäle noch breiter zu machen.

Kolumbien war immer wieder Gegenstand des Österreichischen PEN-Club. Wir haben Autor:innen aus diesem Land eingeladen, die in schlimmeren Zeiten verfolgt worden sind, und haben versucht, ihnen zu helfen. Der Österreichische PEN-Club weiß ganz genau, dass österreichische Autor:innen während des Zweiten Weltkrieges Zuflucht in Kolumbien gefunden haben – das erfüllt uns mit großer Dankbarkeit. Doch die Anzahl der Österreicher:innen, die in Kolumbien überlebt haben, wird nicht von der Anzahl der Kolumbianer:innen erreicht, die in Österreich Zuflucht finden konnten. Das erfüllt mich mit Scham.

Kolumbien und Österreich sind mehrfach historisch miteinander verbunden. Wir sind einander nicht fremd. Das berechtigt zur Hoffnung, dass sich Wünsche erfüllen lassen.

Ich hätte einen Wunsch: Wenn wir die Zeugnisse der Literatur ernst nehmen, so ist nicht nur Kolumbien ein „Multikultistaat“, sondern auch Österreich. Da gäbe es so manches über Vielfalt zu besprechen und vor allem lernend zu erkennen. In Kolumbien leben zahlreiche Autor:innen afro-kolumbianischen Ursprungs, es gibt auch indigene Kulturen mit ihren Oraturen und Literaturen – die vielleicht auch in Kolumbien nicht ganz so aufmerksam gehört werden, wie sie sollten. Geben wir ihnen eine Chance und lassen wir ihre Stimmen hier erklingen!

Herr Botschafter, wir sind für jede Schandtat bereit, um Dialoge zu pflegen! Ich danke Ihnen bereits im Voraus!